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massivUMFORMUNG Maerz 2016

MENSCHEN UND WERTE Thomas Wieke hat Musik, Ästhetik und Kulturwissenschaften studiert und ist seit 1984 Autor und Redakteur in Berlin AUTOR Auf einem französischen Gemälde des 17. Jahrhunderts sieht man eine Familie in der Schmiede. Der Schmied selbst ist alles andere als ein klassischer Muskelprotz, seine Frau neben ihm ist ihm an Größe ebenbürtig und man traut ihr zu, dass sie ihm nicht nur das Essen an den Amboss bringt. Der älteste Sohn, noch im Kindesalter, zieht den Blasebalg. Auch die Schmiede bei Velasquez („Die Schmiede des Vulcanus“) sind durchweg schlanke Männer. Schaut man in der Geschichte zurück und erkennt, dass sich der Beruf des Schmieds nicht durch pure Muskelkraft, sondern durch besondere Geschicklichkeit auszeichnet, dann findet man es auch nicht mehr ungewöhnlich, wenn eine Frau diesen Beruf beherrscht. „Es sind im Grunde die vier klassischen Elemente – Feuer, Wasser, Erde (Erz) und Luft – und die Arbeit mit dem Hammer. Und mehr als auf bloße körperliche Kraft kommt es auf Rhythmusgefühl, auf Atmung an. Darauf, dass man konzentriert und ganz bei sich ist. Dem Hammer nachspürt, seinen Rückschlag aufnimmt und in neue Schläge umsetzt“, sagt Latifa Sayadi, tunesischdeutsche Schmiedin. Metallbearbeitung verlangt – mental wie körperlich – eher den Typus des Langstreckenläufers als den des Kugelstoßers. Und dennoch: Ich stelle mir vor: Während andere Kinder mit Puppen, Holzklötzchen und Legosteinen spielten, kamen Latifa Sayadi ausrangierte Schlüssel, Kugellager und Topfdeckel in die Quere. Und gehe prompt in die Irre mit meiner Vorstellung. „Gespielt habe ich auch mit Puppen, sonst aber eher mit antiken Mosaiksteinchen, weil mein Vater, Mathematikprofessor und Kulturwissenschaftler, archäologische Ausgrabungen in Tunesien durchführte.“ Geboren ist Latifa Sayadi in Karthago/ Tunesien. Ihre deutsche Mutter ist Medizinerin, die zeitweilig in Tunesien arbeitete. Mit Metall ist sie eigentlich erst mit 23 Jahren erstmals ernsthaft in Kontakt gekommen: Auf der Fachhochschule für Gestaltung sollte ein Metallstück gesägt werden. „Sägen bedeutete für mich bis dahin: Holz sägen. Mit der Säge gegen Metall vorzugehen, das kam mir absurd vor. Aber das ließ sich wirklich sägen, sodass ich anschließend gleich einen Metallkurs belegt habe. Mit 26 habe ich dann wirklich angefangen, mit Metall zu arbeiten.“ Gibt es eine besondere Befriedigung, wenn man Macht über ein besonders widerständiges Material ausübt? „Ja und Nein. Das ist unterschiedlich. Man kann gegen das Material arbeiten, aber man kann auch mit dem Material arbeiten, sich vom Material leiten lassen. Das kann, bei Skulpturen etwa, durchaus mal passieren: dass das Material es sich anders denkt, als ich mir das vorgestellt habe. Dann schau ich halt, wie ich damit weiterarbeiten kann.“ Eine Situation, die jeder künstlerisch Arbeitende kennt, ob er mit Farbe arbeitet, mit Gips oder mit Stahl. Ironic Fossil Memoria nennt Latifa Sayadi dieses Werk. Sie spielt mit dem Doppelsinn von Iron und ironic, wenn sie die Spuren von Zivilisationsresten unseres Alltags – Sicherheitsnadeln, Bohrer, Kettenglieder, Kugellager, Gewinde – im Stahl aufbewahrt und damit als Fossilien verewigt. Sie erhielt dafür den Berliner Landespreis Gestaltendes Handwerk 2009. Ironic Fossils massivUMFORMUNG | MÄRZ 2016 81


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